Atelierblätter IV  2018

Seit längerer Zeit schon waren Kathrins Sehnsuchtsbilder sowohl im Atelier wie auch in unseren Gesprächen präsent. Unser diesjähriges Motto ist also gar nicht weit hergeholt. Wir alle kennen sie, die Sehnsucht. Sei es die nach dem Sommer, der Freiheit, der Liebe. Oder die nach dem Vergangenen, die uns manchmal einholt. Nach "Schwizerchracher" und "Frouefürz", nach Pastetli und Aromat, nach der Jugend, dem Glück. Was immer das auch war, ist oder noch sein kann.

 

Das freche Glück

Das Glück ist eine Entscheidung, hab ich heute gelesen und habe mich gefragt, wie viele Male in meinem Leben ich mich für das Glück entschieden habe. Wenn ich mir den Satz so durch den Kopf gehen lasse, so finde ich ihn  ziemlich anmassend. Wie dumm kann denn ein Mensch sein, sich dagegen zu entscheiden? Das Glück nicht zu wollen? So dumm kann keiner sein.
Aber ich bin keine Philosophin.
Ich braue mir einen Tee und der Satz, diese Behauptung eigentlich, lässt mich nicht los. Ich setze mich aufs Sofa, die Tasse in der Hand und schaue aus dem Fenster in den Himmel. Wenn ich das Glück spürte, wenn es mir seine Aufwartung machte und sich zu mir gesellte in meinem Leben, habe ich mich jeweils einfach nur gefreut. Meistens ist es ziemlich plötzlich gekommen, ohne Ankündigung und es blieb selten über lange Zeit. Es hat nie gefragt, ob es mir recht ist, dass es kommt und auch nicht, ob es mir recht ist, dass es wieder geht. Was hätte es auch fragen sollen? Es machte ja doch was es wollte. So war es immer.
Das Glück eine Entscheidung. Verflixte Behauptung. Ich komme nicht weiter. Kann ich mich wirklich dafür oder dagegen entscheiden? Glück ja oder Glück nein? Kann ich sagen: Ja, Glück, bitte komm rein, ich will dich. Oder auch: Nein, Glück, heute nicht, danke. Ich habe noch genug von dir in Reserve, es reicht.
Ich stelle mir vor, wie das Glück an meiner Türe klingelt. Ich öffne einen Spalt breit und strecke die Nase raus, es könnte ja irgendwer sein, den ich nicht einlassen will. Aber diesmal ist es nicht irgendwer. Es ist das Glück...

Pastetli


Heute hatte ich wieder einmal ein Pastetli zum Zmittag. Es war in einem alten Tea Room, an dem wir vorbeikamen nach dem Walken, Kathrin und ich. Auf der schwarzen Tafel vor dem Eingang lasen wir das Tagesmenu: Pastetli und Salat. Weiter gab es an diesem Ort noch café crème und Schale gross und Schale klein und heisse Schokolade und Mineralwasser. Das stand alles auch auf der Tafel. Ein Blickwechsel, ein Nicken und wir traten ein.
Ein kleiner, etwas düsterer Gastraum. Das zum grossen Teil fest eingebaute Mobiliar schöne Holzarbeit, wohl aus der Zeit um etwa 1940, 1950, schätzten wir. Eckbänke, jägergrün ledergepolstert und mit matten Rundkopfnägeln, so auch die Stühle. Stabile Tische, etwas jünger, hässlich zwar, aber markant und einladend. All das stand auf einem kleinwürfligen, braunbeige gehaltenen Mosaikboden. Eventuell Novilon. Ein Tisch war besetzt. Eine alte Dame mit sehr schütterem Haar las die Zeitung. Wir grüssten, sie schaute auf und nickte uns lächelnd zu.
Wir wählten einen Tisch am seitlichen Fenster und setzten uns und bald kam eine Frau mittleren Alters in Jeans und Faserpelz aus dem Office und fragte uns freundlich nach unseren Wünschen. Das Pastetli hat uns reingezogen, sagten wir schmunzelnd, Ihr heutiges Mittagsmenu. Ein Pastetli wollten wir schon lange gern wieder mal essen, fügten wir an und sagten der Frau, dass wir früher öfter Pastetli gegessen hätten, aber nun schon länger nicht mehr. Und dass wir eigentlich gar nicht wüssten, warum das so sei. Die Frau schaute etwas erstaunt und sagte, das Pastetli hätten sie immer...

Alpgeräusche

Wenn man vor einer Sennhütte auf einer alten Holzbank sitzt, in die Berge schaut, verloren und aufgehoben in der Stille seiner Gedanken, kann es passieren, dass von irgendwoher ein Geräusch auftaucht, das sich einem ganz langsam ins Bewusstsein schraubt, noch nicht wirklich störend, dann aber immer mehr überhand nimmt und einen in seinem Gedankenfluss unterbricht. Es kann ein leises metallenes Schaben auf trockenem Holz sein, unregelmässig aber stetig, das weiche Tock-Tock von Wassertropfen, die aus der Dachrinne in die Regenwassertonne neben der Haustür fallen oder ein festes Knallen von bunten Plasticbändern im Wind, die an Zaunpfosten flattern. Und plötzlich ist man aus seiner Gedankenspur geworfen, alle Sinne sind dem Geräusch zugewandt, das einen stört oder erlöst. Meistens kommt das Geräusch eher ungelegen und man zappelt hilflos neben der Spur, auf der man gerade noch so ruhig unterwegs war, wie ein Käfer auf dem Rücken. Umsonst versucht man zurück zu gelangen, das Trom wieder zu finden. Keine Chance. Der Faden ist gerissen. Das Geräusch macht sich breit. Das Schaben, Platschen oder lockere Flattern füllt bald die Gehörgänge, findet Resonanz im ganzen Kopf, im Körper, fast schmerzt es, und man weiss sich nicht anders zu helfen, als den Blick von den Bergen zu nehmen, sich von ihrer Erhabenheit und ihrer Stille abzuwenden und aufzustehen. Man schüttelt oder reckt sich und ist man gar...

Dom Rep

 

Der Anruf kam nicht überraschend. Aline erklärte mir in gebrochenem Englisch und unter Schluchzen, dass Karls Organe versagt hätten. Ich wisse ja sicher. Ich wusste. Sie bat mich, Karls Kinder zu benachrichtigen.

Ich hatte die beiden länger nicht gesehen. Früher waren sie oft bei mir vorbei gekommen, wenn sie ihren Vater besuchten. Dabei nahmen sie den Schleichweg aus Kinderzeiten, schlüpften durch das Loch in der Hecke und klopften an die Glastür. Heute stand die Tür weit offen, und als ich sie durch den Garten kommen sah, dachte ich, wie wenig sie Karl ähnlich sehen. Wir umarmten uns.

Schön, das Feuer, sagte Sina, die bleich war und fröstelte. Sie trat an den Kamin. Papas letzter Flug, sagte sie halblaut und hielt ihre Hände in die Wärme. Das hat er nicht verdient, trotz allem nicht. In einer Blechkiste im Frachtraum in ein Kühlfach geschoben. Neben Surfbrettern und Möbelcontainern. Rein, Türe zu, wieder raus, verladen, transportiert und verstaut in dieser Holzkiste mit Rüschen, die morgen in Flammen aufgehen wird. Das Grauen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie zitterte. Tom nickte und er¬zählte, wie fremd Karl aussehe im Sarg und  mit den langen Haaren, die er sich hatte wachsen lassen.

Ich kochte Kaffee.

Wir haben versucht, den Kontakt zu halten, brach Tom das Schweigen. Wir haben es wirklich versucht. Nervös drehte er den schmalen Goldring am kleinen Finger. Wir haben aufgegeben. Ich hab ihn nicht mal mehr zu Weihnachten besucht, flüsterte Sina. Sie weinte.

Wir haben an einen Waldfriedhof gedacht, sagte Tom nach einer Weile. Papa liebte die Natur. Und er war viel im Wald unterwegs, besonders als er den Hund noch hatte. Ich nickte. Ja, er war sehr gerne im Wald. Und er wusste Bescheid über die verschiedenen Hölzer und ihre Verwendung.

War er oft bei dir, wollten die beiden wissen.

Ich nickte und schenkte Kaffee ein. Es hat sich so ergeben, sagte ich. Er sass immer...

Angela

Ich lernte früh, dass man Granny Smith Äpfel nicht kauft, wenn man etwas auf sich und die Umwelt hält, was ich selbstverständlich tue und immer schon tat. Man wusste ja, die Äpfel stammen aus Südafrika. Das sagte alles, wenn ich auch lange nicht wusste was. Mit wässrigem Mund ging ich Jahr um Jahr in grossen Bögen an ihnen vorbei, mied die magische Anziehung ihrer kräftigen, klaren Farbe, ihres knackigen Äusseren, der ebenmässigen Form.
Als ich vorigen Sommer den Katalog des Angela-Versandes aus meinem Briefkasten fischte und beim Durchblättern auf grannygrün-anthrazitfarbene Bettwäsche stiess, war es daher gleich um mich geschehen. Ich habe noch nie etwas bei einem Versandhaus bestellt, ich fand das immer sehr merkwürdig, aber diesmal konnte ich einfach nicht widerstehen. Dass der Versand denselben Namen trägt wie eine junge Kollegin von mir, die mir sehr sympathisch ist, machte die Sache für mich einfacher. Angela, meine Kollegin, ist jung und hübsch und sehr liebenswürdig und ähnlich kam mir Hochglanz-Angela vor: jugendlich, nett anzusehen und freundlich. Mein Herz hüpfte vor Freude. Endlich konnte ich meine Sehnsucht, meine Grünapfelsehnsucht, die ich seit meiner Jugend bei jedem Einkauf tief in mir spürte, auf unverfängliche Art stillen und meinen Grannyträumen Raum geben. Mich in ein grannyapfelgrünes Duvet zu schmiegen, es mir wie einen sommerlich ersehnten Schatten um die Schultern zu legen, seinen frischen Duft einzuatmen und bald in tiefen, natürlich gesunden Schlaf zu fallen, würde all meine jahrzehntelangen Verzichtsmomente belohnen. Ich zögerte nicht und bestellte die Bettwäsche. Und wartete. Sie kam nicht. Ich rief Angela an und sie sagte mit Schmelz in der Stimme: Glück braucht manchmal etwas Geduld, werte Frau Rindlisbacher. Der Duvetanzug wird kommen. Ganz sicher. Freuen Sie sich darüber, dass Ihnen...

Die Tante stirbt allein

Ganz allein im Atelier zu sitzen, hat auch etwas für sich. Die ganze Dimension des Raumes, besonders die Höhe, entfaltet sich auf eine andere Art, als wenn ich hier mit Kathrin rede und lache. Oder weine. Was auch schon vorgekommen ist. Erst kürzlich haben wir hier geweint zusammen. Das war, als die Tante starb. Die hatte ihr Sterbenwollen schon Wochen im Voraus angekündigt. Mit rosigen Backen und leuchtenden Augen informierte sie uns, dass sie jetzt im Sterben liege. Als wir einander etwas verdattert anschauten und Kathrin mit ihrer Hand leicht über Tantes Bettdecke strich, während mir keine Bewegung einfiel, die möglich gewesen wäre, als wir uns also so anschauten, wurde die Tante leicht ungehalten und wollte von uns wissen, ob man denn etwa nicht sehe, dass sie zum Sterben bereit sei. Wir schwiegen eine Weile, schauten etwas verlegen vor uns hin und dann gab ich mir einen Ruck und sagte laut und deutlich: Nein, ehrlich gesagt wäre ich da jetzt nie drauf gekommen, Tante, denn du siehst gut aus, munter und wach und interessiert wie immer. Die Tante blitzte mich aus ihrem Kissenberg herauf an und sagte höhnisch: Läge ich etwa hier, wenn ich munter, wach und interessiert wäre? Nein, das kann ich dir gleich sagen, ganz sicher nicht, denn dann würde ich nämlich dieses Haus sofort verlassen, mir wieder ein Auto kaufen und eine Reise machen. Jawohl.
Sie schnaubte ein wenig durch die Nase, leise nur, so wie Katzen das manchmal tun und schüttelte sichtlich verärgert den Kopf. Kathrin strich weiter über die Bettdecke und meinte dann zur Tante gewandt: Was für ein Auto würdest du denn wollen, Tante? Wieder einen Opel? Die Tante schaute sie längere Zeit böse an und sagte dann: Was soll jetzt diese Frage? Die stellt sich überhaupt nicht. Hauptsache fahrtüchtig. Wir schwiegen alle drei lange. Nach einer Weile fragte die Tante und ihre Stimme klang kräftig für eine Sterbende: ...

Gerne können Sie die Atelierblätter bei mir anfordern.